Wie kann unser Wettbewerb alle Geschlechter ansprechen? Auf diese Frage haben wir vor drei Jahren Antworten gefunden – in der Theorie. Nun blicken wir auf die Wirkung in der Praxis. Heute am Beispiel der Mathematik-Olympiade. Im Gespräch: Mathematik-Studentin und Freiwillige Julia Sollberger.
[Translate to Italian:] Julia (Mitte) begleitete das Schweizer Team an die European Girl’s Olympiad in Mathematics nach Budapest. Bild: Oleksandr Rudenko
Julia, du warst Leiterin an der European Girl‘s Olympiad in Mathematics 2022 (EGMO). Zwei Jahre zuvor hast du als Teilnehmerin beim Wettbewerb mitgemacht. Welche Rolle hat dir besser gefallen?
Julia: Mir haben beide Rollen Spass gemacht. Für Teilnehmerinnen und Leiterinnen steht die Mathematik im Vordergrund – und das Kennenlernen von fremden Ländern und Kulturen, wie zum Beispiel Ungarn im Sommer 2022. Natürlich hat man als Leiterin auch eine gewisse Verantwortung gegenüber den Schülerinnen. Das Programm war dicht: Ich sass in der Jury, übersetzte und korrigierte die Prüfungen. Das ist mit Arbeit und etwas Stress verbunden. Zugleich kann ich so als ehemalige Teilnehmerin auch etwas zurückgeben und Verantwortung in einem Umfeld übernehmen, das mir vertraut ist.
Du begleitest das EGMO-Team über mehrere Monate. Welche Veränderungen beobachtest du bei den Teilnehmerinnen über die Zeit?
Mit der EGMO haben alle Teilnehmerinnen ein Ziel jenseits der Finalrunde der Mathematik-Olympiade. Auch jene, die es noch nicht für möglich halten, es bis zur Selektion für die Internationale Olympiade zu schaffen. Es ist schön zu sehen, wie die Teilnehmerinnen auf die EGMO hinarbeiten.
Wie stärkt ihr den Selbstwert der Teilnehmerinnen?
Ich glaube, dass alle Erfolge den Selbstwert der Teilnehmenden stärken, unabhängig vom GeschlechtEin Erfolg kann zum Beispiel sein, dass man es in die 2. Runde der Schweizer Mathematik-Olympiade schafft, oder auch eine Auszeichnung an einer Internationalen Olympiade. Die EGMO bietet spezifisch jungen Frauen Raum für solche Erfolge. Darüber hinaus treffen die EGMO-Teilnehmerinnen am Anlass auf unglaublich viele mathematik-begeisterte und talentierte junge Frauen. Dies kann ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl, beziehungsweise das Gefühl “am richtigen Ort zu sein” schaffen.
Wir fördern das Arbeiten in Gruppen und ermutigen alle Teilnehmenden, Fragen zu stellen, wenn sie etwas nicht verstehen.
Spielen an der Mathe-Olympiade. Bild: Middle European Mathematical Olympiad 2022 in Bern
Wie schafft ihr eine lernförderliche Atmosphäre bei der Mathematik-Olympiade?
Die Teilnehmenden tauschen sich sehr viel aus, helfen sich gegenseitig und versuchen, schwierige Aufgaben gemeinsam zu lösen. Da müssen wir als Leiter*innen gar nicht nachhelfen. Wir fördern das Arbeiten in Gruppen und ermutigen alle Teilnehmenden, Fragen zu stellen, wenn sie etwas nicht verstehen.
Warum sind euch körperliche, spielerische und kooperative Aktivitäten trotz dem Wettbewerbsformat so wichtig?
Wir sind viel mehr als nur ein Wettbewerb. Teilnehmende verbringen viel Zeit miteinander, von einigen Tagen bis hin zu Wochen für jene, die es an die Internationalen Olympiaden schaffen. Es ist das Spiel, der Spass und der Austausch, der diese Tage und Wochen zur einer richtig tollen Zeit machen. Es gibt auch Teilnehmende (mein 16-jähriges Ich mit eingeschlossen), dich sich in Wettbewerbssituationen nicht besonders wohlfühlen, bei uns aber bestens aufgehoben sind. Weil wir eben mehr sind als ein Wettbewerb.
Die EGMO schafft ein Zugehörigkeitsgefühl, beziehungsweise das Gefühl, “am richtigen Ort zu sein”.
In den letzten drei Jahren kamen auf 10 Teilnehmende bei der Mathematik-Olympiade rund 4 Frauen und 6 Männer. In den 11 Jahren zuvor waren es noch 3 Frauen und 7 Männer. Wie erklärst du dir diese Veränderung?
Ich vermute, dies ist eine Folge der neuen ersten Runde, die wir 2020 eingeführt haben. Es handelt sich um einen kurzen Online-Test. Man kann ihn von zu Hause oder in der Schulstunde lösen. Wenn ganze Schulklassen mitmachen, gibt es schon einen bestimmten Frauenanteil. Vorher bestand die erste Runde aus einer dreistündigen, schwierigeren Prüfung in Zürich, Lausanne oder Lugano. Ein Online-Test in eine viel kleinere Hürde als eine Fahrt an eine anspruchsvolle Prüfung vor Ort. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir damit Teilnehmende und insbesondere auch Teilnehmerinnen dazugewinnen, die sich eine erfolgreiche Teilnahme eigentlich gar nicht selbst zutrauen.
Wie herausfordernd ist es für euch Frauen zu finden, die bei der Mathe-Olympiade unterrichten?
Ziemlich schwierig. Das hat vermutlich damit zu tun, dass wir nur relativ wenig aktive Frauen unter den Freiwilligen haben. Unser Verein besteht grösstenteils aus ehemaligen Teilnehmenden. Wir hoffen, dass wir dank der EGMO auch mehr weibliche Freiwillige gewinnen können, weil sie sehr motivierend wirkt. Mit mir und meiner Kollegin Annaelle sind zwei eh. Teilnehmerinnen im Vorstand der Mathematik-Olympiade.
Ich wünschte mir, es gäbe keine “Leaky Pipeline“, sprich ein mit fortschreitenden Runden abnehmender Frauenanteil.
Wie sieht für dich die ideale Mathematik-Olympiade in Sachen Geschlechterverteilung aus?
Die eigentliche Geschlechterverteilung unter allen Teilnehmenden in Prozent finde ich persönlich nicht sehr relevant. Viel wichtiger fände ich eine Mathematik-Olympiade, bei der die Geschlechterverteilung über alle Runden hin konstant bleibt - bis hin zum Team für die Internationale Mathematik-Olympiade. Ich wünschte mir, es gäbe keine “Leaky Pipeline“, sprich ein mit fortschreitenden Runden abnehmender Frauenanteil. Von 2005-2019 gab es diese „Leaky Pipline: Der Frauenanteil bei der ersten Runde betrug 30%, beim Finale waren es noch 20%, beim Internationalen Wettbewerb 16%. In den letzten drei Jahren hatten wir im Vergleich mehr Frauen bei der 1. Runde (36.4%, + 6.4%) und im Finale (26.2%, +6.2%), was uns natürlich freut. Beim Internationalen Wettbewerb blieb der Anteil fast gleich, bei 16.7%.
Gender-Leitfaden: Die Empfehlung „Vielfältige Angebote“ aus dem Gender-Leitfaden setzt die Mathe-Olympiade um: Sie variiert zwischen geschlechter-getrennten und -gemischten Angeboten, organisiert die EGMO als eigenständigen Wettbewerb und fördert körperliche, spielerische und kooperative Aktivitäten trotz Wettbewerbsformat. 2019 haben Freiwillige in Zusammenarbeit mit der Geschäftsstelle des Verbandes sechs Empfehlungen formuliert (Konzept, Empfehlungen).